Todesfalle Kippfenster

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Eine Geschichte aus dem Tierrettungsalltag – Todesfalle Kippfenster

Der Notruf

«Es ist kurz nach zwölf Uhr mittags, als an diesem Samstag das Telefon klingelt – die Einsatzzentrale: «Wir haben eine Kippfensterkatze in einer Garage in Kindhausen.» Schnell notiere ich mir die Einzelheiten, packe meine Jacke, meine Handschuhe und eile zum Auto. Hier zählt jede Sekunde. Denn je länger die Katze festsitzt und je heftiger sie sich wehrt, desto tiefer rutscht sie und zieht sich bleibende Lähmungen, grossflächige Organ- und Muskelquetschungen, Gewebenekrosen und tödliche innere Blutungen zu.

Zwanzig Minuten später bin ich vor Ort. Mit Herzklopfen schnappe ich Katzentransporter und Handschuhe. Wie lange die Katze wohl schon in dem Kippfenster eingeklemmt ist? Doch die Mitarbeitenden der Garage haben sie bereits befreit, im Büro auf ein Sofa gelegt und eine Decke über sie ausgebreitet. Vorsichtig hebe ich die Decke an und blicke in zwei gequälte, schockgeweitete Kulleraugen einer wunderschönen grauen Tigerin. Während ich beruhigend auf die verstörte Katze einrede, lege ich sie vorsichtig in den Transporter und fühle dabei ihre steifen Hinterbeine. Kein gutes Zeichen – hoffentlich ist es noch nicht zu spät!

Der Kampf ums Überleben

Entsprechend beeile ich mich, so schnell wie möglich in die von der Einsatzzentrale benachrichtigte Tierklinik zu kommen. Ein:e Halter:in hat sich nicht ausfindig machen lassen, Halsband und Adressanhänger fehlen. Während der Fahrt hoffe ich, dass die Blutzirkulation in den Hinterbeinen wieder in Gang kommt und sich die Katze bewegt. Doch sie liegt regungslos, hebt nur einmal kurz ihren Oberkörper an, für ein paar Sekunden, dann lässt sie ihn wieder sinken – sie ist völlig entkräftet.

Endlich in der Tierklinik, bestätigt die Ärztin meine Befürchtungen: Die steifen Hinterbeine scheinen ohne jegliches Gefühl zu sein, was auf eine quälend lange Gefangenschaft im Kippfenster schliessen lässt. Während des Röntgens streichle ich in der Dunkelheit mit der einen Hand das Köpfchen der Katze, mit der anderen halte ich sie vorsichtig in Position, und mit meiner Stimme versuche ich sie zu beruhigen. Vertrauensvoll schmiegt sich das kleine Wesen in meine Hand.

Das Licht geht an, die Ärztin hängt die Röntgenbilder auf, und als ich mich vom Tisch entfernen will, um sie mir genau anzusehen, halten ein paar Krallen ganz sanft meine Hand zurück, so, als ob das Katzenmädchen mir zu verstehen geben will, es jetzt nicht allein zu lassen. Ganz behutsam lege ich meine Hand wieder um den Kopf der kleinen Kämpferin und bleibe. Die Röntgenbilder sehen so weit gut aus, es sind keine Brüche oder Organverletzungen zu erkennen, was einzig auffällt, ist die prall gefüllte Blase. Die Tierärztin und ich sind uns einig:

Diese Katze hat eine Chance verdient. Wir beschliessen, alles in unserer Macht Stehende zu tun, ihr diese Chance auch zu geben.

Ein Abschied in Würde

Doch das Schicksal ist offensichtlich anderer Meinung. Als wir die Katze in den Behandlungsraum tragen, hinterlässt sie eine rote Spur, Blut tropft aus ihrem Afterbereich. Die Ärztin tastet die Blase ab, sie ist nicht etwa mit Urin gefüllt, sondern mit Blut, das Abtasten ist für die Katze eine einzige Qual, Schmerzkrämpfe lassen den Körper erstarren, und es ist klar, was zu tun ist: Diese tapfere kleine Kämpferin, die so lang durchgehalten hat, sie hat ein Anrecht auf Erlösung. Und die kommt keine Sekunde zu früh.

Schon nach der Betäubungsspritze ist alles vorüber, so geschwächt ist sie, die endgültige Spritze ist nur noch eine Formalität. Traurig mache ich mich auf den Heimweg, begleitet von zwei grossen Augen in einem hübschen grauen Tigergesicht. Und meinen Tränen.»

Verfasst von Patricia Blum, Leiterin Tierrettung

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